Kulturschockierter Münchner flüchtet von Timmendorfer Strand auf finnisches Fährschiff

Es ist irgendwie komisch, wenn das Highlight des Tages erst so spät am Abend stattfindet. Da ist Geduld gefragt. Jetzt sitze ich also um 19.30 Uhr noch auf dem Campingplatz und ja, jetzt langweile ich mich tatsächlich ein bißchen. Gegessen, gepackt, nur das Zelt steht der Form halber noch, damit ich nicht ganz so merkwürdig auf meinem kleinen Stühlchen neben meinem Motorrad sitze. Habe mir noch beim ADAC durchgelesen, wie man sein Motorrad richtig auf einer Fähre anbindet, damit es über Nacht nicht wegläuft. Manchmal frage ich mich echt, wie Leute früher ohne Internet überlebensfähig waren. 

Der Tag an der Ostsee war herrlich. Strahlender Sonnenschein im Wechsel mit schönen Fetzenwolken.

Der kleine Ausflug nach Timmendorfer Strand war ein rechter Kulturschock: Villenarchitektur, teilweise in bemühter japanischer Art, das Durchschnittsalter ist nahe an der letzten Herztablette, immerhin viele sportliche Leute auf geliehenen E-Bikes scheuchen die Enkelkinder vor sich her.

So alt kann ich nicht werden, dass ich da freiwillig Urlaub machen will. Travemünde selbst hat ganz bezaubernde Eckchen, kleine Puppenhäuser, fein geklinkert, sauber gestutzer Rasen. An der Uferpromenade bin ich mir wie ein Landstreicher vorgekommen. Alles sitzt und wartet auf das nächste Fischbrötchen zum Pils.

Und ich in Outdoorhose, mit dem Ortlieb-Radelkurierrucksack auf dem Rücken, munter an einer Banane knabbernd, die Saftschorle in der anderen Hand schwenkend. So leicht kann man mal Outlaw spielen. 

Am Zeltplatz dann:
„Grüß Gott.“
„Hallo!“
„Du bist doch aus München?“
„Ja“
„Wo genau?“
„Au“
„Ahhhh. Wir haben früher in Berg am Laim gewohnt. Unsere Tochter lebt ja in Zorneding.”
“Klar, die kenn ich doch.”
“… Wo geht‘s hin?“
„Finnland, dann – wenn ich es schaffe – ans Nordkapp.“
„Waren wir vor ein paar Jahren auch.“
„Mit dem Motorrad?“
„Nein, haben wir überlegt, dann aber doch mit dem Reisebus.“
Grußlos verlasse ich den Zeltplatz. Reisebus… Das ist einfach nicht satisfaktionsfähig.
Natürlich nicht: Minuten später weiß ich von berufsbedingten Umzügen, dass es in Schweden ein Autotestgelände gibt und dass die Weite da oben, also die Weite….!!! Das kann man sich gar nicht…!!! 

Ich freue mich. Und ich habe in Travemünde noch eine T-Shirtdruckerei gefunden, die mir jetzt am Abend rasch noch ein Shirt macht. Der Text:

…?
Finnland, dann ans Nordkapp, wenn ich es schaffe, dann über Norwegen an der Küste zurück.
…?
Nee, ich will das alleine machen.
…?
Ja, die Reifen sind neu.
…!
Ach, sie haben aber auch spannende Dinge gemacht.
…! …! …! …!
Aha. Aha. Aha. Aha.
…!
Danke! Ihnen auch einen schönen Abend.

Mehr brauche ich nicht. Naja, jetzt gehe ich mich umziehen und fahre los. Mag nicht mehr ewig warten. Wenn auch die Boardingtime mit 23.30 Uhr arg spät ist. Immerhin sagt die Boardbroschüre, dass ich Sat-TV habe.

Update 22.30 Uhr: Bin am Hafen und das ist echt großes Kino. Motorradfahrer unter sich, die Hälfte Finnen, davon sieht die Hälfte aus wie Posterboys aus einer schlechten Heavy-Metal-Zeitschrift. Oh, die holländische Harley-Fraktion freundet sich gerade mit den Autoverkäufern aus Paderborn an. In Finnland verläuft sich das dann hoffentlich rasch wieder.

Nebenbei: Seit ich hier am Hafen bin, habe ich mein neues T-Shirt erst 2x gebraucht. Wenn Autofahrern langweilig ist, dann kommen sie offenbar gerne zu allein reisenden Motorradfahrern und plaudern über Mücken und Sommerhäuser in Finnland, wo die Ostsee im Norden zu Ende ist. Ich will sofort in meine Kabine.

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