Endurotraining

29.5.2020

Es war ein Kleinjungentraum: Ein Motorrad auch jenseits asphaltierter Straßen fahren können. Die alten Poster von Paris-Dakar, die Berichte von der GS-Trophy: Drifts und Sprünge, Beherrschung und Kontrolle. Als spätberufener Motorradfahrer war ich die letzten Jahre gut damit beschäftigt, das ‘normale’ Straßen-Programm so zu vertiefen, dass ich mich (gefühlt) sicher durch die Welt bewegen kann, dass ich an 150 Kehren in den Dolomiten Spaß habe, dass ich nicht zitternd, sondern fröhlich den Passo di Gavia im Regen überquere (naja, mit Regenfröhlichkeit), dass ich viele Kilometer durch Skandinavien mit Fähren und Kälte und festem Hintern fahren kann und mich am Gefühl von Freiheit und Autonomie berauschen kann, mir die Welt erfahren kann.

In Finnland habe ich am Inarisee einen langen Mittsommerabend mit einem Schweden verbracht, der ganz aufgedreht am Zeltplatz ankam, dann – nach meinem Empfinden – sehr cool im Stehen hereingefahren ist und mir noch beim Zeltaufbau begeistert erzählt hat, dass er den ganzen Tag auf Gravelroads unterwegs gewesen ist. Ich war selbst noch voller Endorphin, weil ich oberhalb des Polarkreises angekommen bin – ich, der erste meiner Familie, der Motorrad fährt und dann auch noch alleine im hohen Norden. Für mich war das schon ein Abenteuer. Und dann das Gefühl: Da geht noch mehr. Gravelroads, im Stehen fahren. Ich wusste, dass es das gibt, aber dass das etwas ist, das auch ich machen könnte, das ist bis dahin nicht wirklich bei mir angekommen. Die folgenden Tage bin ich mutig auf jedem Baustellenabschnitt Finnlands und Norwegens auf Schotter aufgestanden, habe tapfer erste Kilometer auf einer Schotterstraße zu einem Zeltplatz gemacht. Zuhause dann der Weg, den ich oft suche: erstmal Theorie. Bücher, Videos, Anleitungen. Warum überhaupt im Stehen fahren? Wie Steigungen und Gefälle bewältigen?

Durch Zufall bin ich kürzlich auf einen Link einer Motorradschule in der Nähe gestoßen, die auch Kurse fürs Endurofahren mit Reiseenduros anbieten. Under Control – das klang doch gut. Ich nahm allen Mut zusammen, kontaktierte das Team, ob ich auch mit Straßenreifen am ersten Kurs teilnehmen könnte. Ich konnte, die Inhaberin beruhigte mich und ich bekam kurzfristig einen Platz.

Nervös kam ich in der Früh am Trainingsgelände am Münchener Flughafen an. An der letzten Ampel spreche ich noch eine Frau auf einer 600er Enduro mit Stollenreifen, gefühlt 500mm Federweg und deutlich unter 200kg an, ob sie auch auf dem Weg zum Training wäre. Sie war, mein Mut sank etwas beim Blick auf mein straßenbereiftes Dickschiff. Vor Ort dann freundliche Begrüßung und erste Empfehlungen: Bitte Spiegel und Windschild abmachen. Ok. Luftdruck vorne und hinten auf 2 Bar absenken. Auch ok. Eine Stimmungsmischung als Vorfreude und Nervosität bei den KursteilnehmerInnen und großer Gelassenheit bei den Trainern. Corona-bedingt wurden die Gruppengrößen halbiert. Wir waren drei Jungs in einer Gruppe, unsere Trainerin war Birgit, eine ehemalige Profi-Enduristin, die nun seit vielen Jahren Sicherheitstrainings für Autos und Motorräder gibt und die – um es vorweg zu nehmen – ganz großartig war. “Wir wollen, dass ihr locker bleiben könnt, bei allem, was ihr macht. Wenn das Grinsen verschwindet, dann hören wir auf.” Mein Grinsen blieb den ganzen Tag. Auf einem großen Schotterparkplatz ging es mit Grundübungen los: Gleichgewicht, richtig Stehen, Blickführung, Oberkörper locker, Balanceübungen, immer zwei Finger an der Kupplung, Hebeleinstellung, Fußposition. Ich fasse Mut, spüre mich ins Motorrad hinein, merke wie ich ihm vertrauen kann, wie es sich unter mir bewegt und auch durch tieferen Schotter schwimmt. Mal Gas geben, mal die Traktionskontrolle aus und noch einmal Gas geben. Das Hinterrad dreht durch, bricht etwas aus. Vielleicht nur ein paar Zentimeter, aber damit zündet etwas in mir: Da ist das Poster mit dem Drift durch den Sand im Kopf. Dann Bremsübungen auf Schotter – eine Mutprobe für uns Asphaltheinis. Vertraue dem ABS auch im Kies. Und siehe, die Vollbremsung gelingt mir, ich stürze nicht. Eine junge Praktikantin ist dabei, die mit 15 Jahren schon bayerische Meisterin im Trial ist. Sie bremst saucool das Hinterrad um die Kurve, wie ich es nur mit dem Fahrrad kann. Also nächster Schritt: ABS am Hinterrad ausmachen und auch so eine Bremsung versuchen. Langsam, nicht übertreiben. Doch ich will den Unterschied kennenlernen, mache das ABS ganz aus und bremse vorne härter an. Sehr knapp, dass ich nicht stürze. ABS bleibt an und auf Nachfrage lerne ich auch, wann man es ausmacht: lange Abfahrten auf sehr rutschigem Untergrund beispielsweise. Die Mittagspause kommt zur rechten Zeit. Die Hände und Handgelenke tun weh, alles ist etwas verkrampft von der ungewohnten Haltung. Außerdem lernt man in Pausen auch immer viel. Birgit erzählt von ihrer Renn-Zeit, man tauscht sich über Reifen und Protektoren aus. Alles sehr locker und – was mir besonders gut tut – ohne männlichkeitsgetriebenen Wettbewerbssinn.

Nach der Mittagspause dann zurück auf den Parkplatz: eine erste Rampe steht an. Nicht hoch, aber mir kommt sie riesig vor. Birgit zeigt und erklärt, an welcher Stelle man Gas gibt, warum man Schwung braucht. Beim drittenmal läuft es runde, sie ruft mir zu “Jetzt wird er cool!” – das geht runter wie Öl. Dann die erste Abfahrt, langsam, im Kriechtempo. Kontrolle ist das Ziel. Das Vertrauen in mich und die Maschine wächst, wir fahren einen ersten kleinen Enduropfad, der alles kombiniert. Ich will das, genau das! Birgit ordnet eine Pause an. Es ist warm geworden und man muss den Flow brechen, bevor der Körper schwächelt. Trinken. Reflexion. Körperhaltung. Lockerheit. Blickführung. “Was macht man eigentlich, wenn man eine Rampe hochwill und es nicht schafft?” Verdammt, das müssen wir jetzt lernen. Ein alter Motocross-Hügel, vielleicht 4-5 Meter hoch. Zur Hälfte rauf, dann Motor abwürgen. Motorrad auf einem Bein balancieren, mit dem anderen die Fußbremse bedienen… Nichts für mich. Besser mit beiden Beiden stehen und mit der Kupplung bremsen. Geschafft! Das war die größte Überwindung des Tages. Danach auf die kleine Cross-Strecke, die alles Gelernte verbindet: hoch, runter, Kurven, überhöhte Kurven, bremsen. Ich brauche 1-2 Runden, dann gebe ich am Hügel mal mehr Gas. Das Hinterrad springt! Nochmal! Dann auch das Vorderrad. Nur wenige Zentimeter. Aber es ist in der Luft.

Nochmal Pause und zur Abwechslung ein anderer Enduropfad. Rutschig ist der, die Zufahrt durch Sand. Wenn die Trainerin sagt, der Zugang zur Strecke ist tricky, dann glaube ihr. Ein Kollege landet im Gemüse. Ich habe Glück, ein paarmal gerade noch das Bein auf dem Boden bevor ich falle. Mit jeder Runde und jedem Lob wächst das Selbstvertrauen. Wir gehen zum Abschluss zurück auf die Cross-Strecke. Zuhause lese ich später, dass das die Kinderstrecke ist. Egal, ich habe immer mehr Spaß und gebe vor den Hügeln immer mehr Gas. Es gelingt, beide Räder sind in der Luft, ich bin für einen Moment 30-40 Zentimeter in der Luft. Das ist nicht viel, aber für mich ist es eine Welt. Ich springe mit meinem Motorrad in diesem Moment in mein Kinderzimmer zurück. Ich bin der erste in meiner Familie, der Motorrad fährt. Und ich bin der erste, der damit springt. Ich bin 46 Jahre und fühle mich wie mit 12 auf dem BMX: wild und verwegen. Bei der Landung merke ich, wie sich die 250 KG meines Motorrades mit meinem Wohlstandsbauch verbinden. Die Federung schlägt durch, die Fußspitzen haben Bodenkontakt. Wir halten das beide aus, das Motorrad und ich, ich glaube, wir genießen es beide. Ich habe die steilste Lernkurve seit Jahren und meine GS wird endlich mal artgerecht bewegt. Vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben. 

Zuhause merke ich, dass mir alles wehtut. Aber das Grinsen bleibt – es bleibt noch Tage. Und wie war das? Wir hören auf, wenn das Grinsen aufhört. Selbst jetzt beim Schreiben ist es sofort wieder da. Also: Wir hören nicht auf.

Spät am Abend kommt eine Whatsapp von Birgit. Sie hat Bilder gemacht und Videos. In einem ist sogar ein Sprung festgehalten. Familie, Freunden, Kollegen – das muss ich allen zeigen. Promotionsurkunde? Pahh. Hier habe ich beide Räder in der Luft. Ich. Unfassbar. Ich schreibe Birgit, dass das eine großartige Erfahrung war und sie eine super Trainerin. Und sie antwortet: “Mach weiter so!” Mach ich – genau das ist der Plan.

Meine GS kriegt nun ihren eigenen Film. Der Trailer dazu ist schon zu sehen:

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