Der Tag, an dem ich nicht nach Schweden gefahren bin…

… und dann doch.

Morgens

Um 5.30 Uhr im Zelt liegen und frieren und nein, das ist alles nicht das, was ich will. Ich renne schon wieder irgendwelchen Ideen hinterher und hab das Gefühl, nur abzuspulen, was ich mir vorgenommen habe. Ich wollte unbedingt wieder das Gefühl haben, das ich ’19 in Finnland am See und in Norwegen auf Senja hatte: ganz bei mir und im Reisen mich entdecken. Und deshalb hab ich mir viel Abenteuer vorgenommen. Und jetzt ist das alles zu groß. Das Motorrad kommt mir riesig vor, aller Besitz wie Ballast. Ich könnte, ach was, ich hab Rotz und Wasser geheult. Die Fähre hab ich fahren lassen, saß auf einem Stein in der Morgensonne und guck dem Gras beim Wachsen zu. Heimfahren? Ist eine echte Option. Die sich genauso schlecht anfühlt wie weiterzufahren – oder wie dazusitzen. Ein inneres Patt.

Luftholen, schlechten Kaffee trinken, Susanne am Telefon vollheulen, packen und erstmal nichts endgültig entscheiden. Ich schau mir jetzt den Kreidefelsen an. Vielleicht hilft das.

11 Uhr Im Wald hinter den Kreidefelsen. Der schlimmste Anfall ist wieder vorbei. Bewegung hilft. Hab die Motorradstiefel und den Helm gegen Wanderschuhe und Rucksack getauscht und bin durch den wirklich sehenswerten Wald

zu den eher erwartbaren Kreidefelsen gelaufen, die von der nicht kommerziellen Seite gesehen hübsch

aber von der Skywalk-Busbahnhofseite nur wie eine dieser hilflosen Sehenswürdigkeiten wirken, die vor langer Zeit einmal still, eindrucksvoll, würdevoll und vielleicht wirklich mal sehenswürdig waren, heute aber eher angegrabbelt wirken und nur noch benutzt werden, damit man sich selbst darauf sehen und fotografieren lässt.

Sehenswürdig meint heute das, was die Menschen, die irgendwo hingehen, von sich selbst denken, glaube ich. “Das ist ein historischer/ästhetischer/natürlicher Ort, der es würdig ist, dass ich mich sehen lasse.” Da ist kein Interesse an der Welt, nur die Suche nach guten Bühnen zur Selbstdarstellung. Hui – auch wenn meine Krise von heute Morgen wieder einigermaßen vorbei ist: Ich bin offenbar im Moment nicht gut auf die Welt zu sprechen.

Jedenfalls hab ich mir nochmal eine Nachmittagsfähre gebucht. Lehrgeld. Die kurze Erklärung für meinen Zustand: Es war zu viel, was ich gewollt, gemacht und gedacht habe (siehe oben). Die noch kürzere: Es ist einfach der dritte Reisetag.

15 Uhr: Inzwischen war ich noch in Sassnitz und hab mir von einer Möwe meine zwei Eiskugeln von der Waffel klauen lassen. Sowas. Hoffentlich haben sie ihr geschmeckt.

Jetzt ist das Mopped im Keller angeleint und ich geh Kaffee jagen. What a day!!!

19 Uhr: Hey was alles in so einem Tag steckt. Die Überfahrt war zum Kotzen, die Zollbeamtin hat mir kein Wort geglaubt, dass ich nichts zu verzollen habe (hab ich wirklich nicht), hat aber Mitleid (oder keien Lust auf das Gestöber in meinen Koffern) gehabt und der Campingplatz hier in Trelleborg ist: zu. Rezeption nicht besetzt, bitte online buchen. Onlinebuchung defekt. Eine Traube von Menschen, die sich ärgern, ich spreche einen Rocker im Platz an, der offenbar alleine mit dem Motorrad – inzwischen weiß ich: seit 5 Wochen – unterwegs ist. Er schaltet sofort auf Deutsch um, schimpft auf die schwedischen Campingplätze und gibt mir seinen Zugangscode zur Schranke und Dusche. Ich lass mir nichts anmerken, flüstert den Code schnell noch dem sehr netten schwulen Britenpaar zu und wir fahren triumphal hinein. Und jetzt? Sitze ich in Schweden an der Ostsee um 19 Uhr bei 19 Grad, ohne eine Krone, aber heute das erste Mal so richtig zufrieden.

Übrigens: Heute Nacht hatte ich im Zelt Besuch von Antons Glücksnashorn. Danke! Das musste ja klappen.

Nachtrag: Und da sind sie wieder, die langen Schatten, die ich im Norden so liebe.

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